Lokalaugenschein in Rumänien

Wir brachen vor Sonnenaufgang auf, um den Tag voll auszunutzen. Gestärkt von einem Rastplatz-Frühstück passierten wir nach einigen Stunden Fahrt die kilometerlangen LKW-Staus an der ungarisch-rumänischen Grenze, von denen uns die Fahrer*innen oft berichten. Unser PKW wurde rasch abgefertigt, aber wir können uns lebhaft vorstellen, wie nervenzehrend die stunden- oder sogar tagelange Warterei für die LKW-Lenker*innen sein muss!

Unsere erste Station in Rumänien war das „Haus der Hoffnung“ in Sambateni. Hier kümmern sich Dorin und Marion Moldovan darum, dass Kinder aus Notlagen heraus in Pflegefamilien und im Bedarfsfall auch an Adoptiveltern vermittelt werden. Die Sozialarbeiterin Oana bereitet die Erziehungsberechtigten gemeinsam mit einer Psychologin auf ihre Rolle vor, begleitet sie im Alltag und bildet das Bindeglied zum Jugendamt.
ORA unterstützt die Moldovans mit Sach- und Lebensmittelspenden. Stolz zeigte uns Dorin seine neu erbaute Lagerhalle, die als witterungsfester Umschlagplatz für die Hilfsgüter fungieren wird. Auch der große Flohmarkt, den die Moldovans zwei- bis dreimal pro Jahr veranstalten, wird -endlich überdacht!- hier stattfinden. Die Erlöse fließen in ihre Sozialprojekte. Neben ihrer Arbeit zum Wohle vernachlässigter oder verlassener Kinder verteilt das Ehepaar regelmäßig Lebensmittel und Hilfsgüter an bedürftige Familien in der Region.


Als nächstes besuchten wir ORA-Projektpartnerin Angelika Wenger, die in Valcelele Bune und Calan tätig ist. Ein Herzstück ihrer Arbeit ist die Verköstigung notleidender Menschen: zwei Köchinnen geben in der „Cantina“ in Calan täglich 80 Essen aus, zudem verteilen Angelika und ihr Team jeden Donnerstag 120 Portionen „Essen auf Rädern“ an Bedürftige in den umliegenden Gemeinden. Bei unserer Ankunft in der „Cantina“ duftete es köstlich, und wir durften sogar einen Blick in die riesigen Töpfe mit Kartoffelpüree und Gemüseeintopf werfen!
Angelikas zweites Herzensanliegen ist die Arbeit mit jungen Menschen. Wir besichtigten die Räumlichkeiten ihrer „Kids Clubs“, in denen etwa 60 Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien ganzjährig eine sichere Anlaufstelle für Austausch und Miteinander finden. Die Sozialarbeiterin Ana gestaltet die Gruppentreffen und ist Ansprechpartnerin für alle Sorgen und Probleme. Sofern es finanziell möglich ist, organisiert sie im Sommer ein Ferienlager für ausgewählte Kids Club-Teilnehmer*innen – laut Ana das absolute Jahreshighlight! Für 2024 hat ORA die Unterstützung für das Sommerlager bereits zugesagt. „Wir ermutigen die Jugendlichen, auch selber einen kleinen Beitrag zu den Kosten zusammen zu sparen“, erzählt uns Ana. „Denn uns ist wichtig, ihnen Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung zu vermitteln.“
In insgesamt drei Second Hand Geschäften erwirtschaftet Angelika notwendige Finanzmittel für ihre sozialen Dienste und bietet Benachteiligten die Möglichkeit, äußerst günstig einzukaufen. Wir bewunderten Angelikas gut sortiertes Lager und den Second Hand Shop in Calan – klein, aber fein! Jedes Kleidungsstück, das ankommt, wird von zwei Frauen sorgfältig sortiert und aufbereitet, bevor es in den Verkauf geht. Marinella, eine der beiden Mitarbeiterinnen, erläuterte uns bescheiden, aber auch mit Stolz ihre tägliche Arbeit.


Unser nächster Stopp war Sighisoara (dt.: Schäßburg), wo wir unsere Projektpartner Paula und Florin Boruga aufsuchten. Das rumänische Ehepaar unterstützt benachteiligte Roma-Gemeinschaften und ukrainische Flüchtlinge. Wir trafen Paula in der kleinen Gemeinde Danes in einer ihrer drei „Cantinas“ mit angeschlossener „After-School“. Hierher kommen Roma-Kinder nach der Schule, essen zu Mittag und erledigen mit Unterstützung ehrenamtlicher Helferinnen ihre Hausübungen. „Voraussetzung für die Verpflegung und Betreuung bei uns ist der regelmäßige Schulbesuch der Kinder. Das überzeugt auch die Eltern, die -leider selber oft ungebildet- ansonsten keine großen Wert auf Schulbildung legen würden. Um den Lernfortschritt zu fördern, sind wir in enger Abstimmung mit den Lehrer*innen“, erzählte uns Paula. Dann zeigte sie uns den Backofen, in dem sie im Winter gemeinsam mit den ärmsten Roma-Frauen Brot für die Familien backt. Auch eine Waschküche mit zwei Waschmaschinen und einem Trockner gibt es. „Oftmals besitzen die Menschen nur wenig mehr als das, was sie am Körper tragen. Das erschwert die Körperhygiene massiv“, erläuterte Paula. „Für unsere Arbeit in den Roma-Siedlungen brauchen wir viel Geduld, aber es geht in kleinen Schritten voran. Die Menschen sind ohne Hoffnung, viele haben resigniert. Doch immer wieder gibt es ermutigende Erlebnisse, die uns Kraft geben. So arbeiten wir seit längerem mit einer Frau, die anfangs über alles und jeden geschimpft hat. Durch viele Gespräche hat sie Vertrauen gefasst und kam sogar zum Singen in unseren Chor. Inzwischen ist sie wie ausgewechselt und hat ihre Lebensfreude wiedergefunden! Oder der Mann, der früher seine Frau und Kinder schikaniert hat. Er setzt seine Energie nun produktiv beim Brotbacken ein. Wir sind dankbar, dass wir solche Entwicklungen anstoßen und miterleben dürfen!“

Nachdem dem gemeinsamen Mittagessen mit den After-School-Kids in der „Cantina“ besichtigten wir die Einrichtungen der Borugas für ukrainische Flüchtlingsfamilien. Im Kindergarten in Danes gab es gerade einen Masernausbruch, daher trafen wir dort keine Kinder an und konnten selber schaukeln 😉 Dafür wurden wir von etwa 50 ukrainischen Kindern im Tageszentrum „Joy Center“ in Sighisoara umso euphorischer empfangen! Die Kleinen umringten uns und hatten sogar Geschenke für uns gebastelt. Altersgemäß etwas zurückhaltender begrüßten uns die 25 Teenager, die auf dem Dachboden zusammensaßen. Wie wir später erfuhren, sind viele dieser Kinder und Jugendlichen Kriegswaisen. „Das Joy Center ist eine Anlaufstelle für die ukrainische Community, wo sie sich austauschen, vernetzen und gegenseitig unterstützen können“, erklärten uns Paula und Florin bei der Nachbesprechung. „Es kommen insgesamt etwa 250 Menschen hierher. Für die meisten sind die fehlenden rumänischen Sprachkenntnisse das größte Problem. Wir helfen ihnen bei Amtswegen, Arztbesuchen oder ähnlichem. Bedürftige versorgen wir mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs. Wann immer es möglich ist, schicken wir Sachspenden wie Lebensmittel, Kleidung, Matratzen oder auch Spielzeug, die wir zum Beispiel von ORA bekommen, weiter in die ukrainischen Kriegsgebiete, wo sie dringend gebraucht werden„. Borugas, das spürten wir deutlich, haben in ihren Hilfstätigkeiten ihre Berufung gefunden.
Zum Tagesabschluss genossen wir bei einem Spaziergang durch das abendlich erleuchtete Sighisoara noch eine traditionelle rumänische Suppe im Brotlaib serviert – köstlich!


In Cristuru Secuiesc trafen wir Benjamin und Christin Schaser, bereits seit 2010 Projektpartner von ORA. Das deutsche Ehepaar arbeitet mit der benachteiligten Roma-Bevölkerung. „Kinder- und Jugendarbeit in aller Vielfalt, eingebettet in die hiesigen Strukturen, ist mir ein Herzensanliegen“, erläuterte uns Beni. Als zentraler Anlaufpunkt fungiert  das Vereinshaus, in dem auch ein Second Hand Basar untergebracht ist. Wir waren beeindruckt von den ansprechend gestalteten Räumlichkeiten und dem gut sortierten Warenangebot! Die Sachspenden werden zu günstigen Preisen angeboten, um die sozialen Dienste des Vereins unter der Leitung von Schasers zu ermöglichen. „Wir sind sehr dankbar für die wertigen Dinge, die ORA uns schickt“, ließ uns Beni wissen. „Ein großer Teil geht in den Verkauf, vieles erhalten die Familien und Kinder in unseren Programmen, manches leiten wir in die Ukraine weiter. Lebensmittel verkochen wir in unseren sozialen Einrichtungen oder geben sie an Bedürftige weiter.“

Als Herzstück ihrer Arbeit betreiben Schasers die zwei „Kinderarchen“ für Romakinder in Csekefalva und Fiatfalva. Beni erläuterte uns das gut durchdachte Konzept: alle starten mit gemeinsamem Spiel, einer Bibeleinheit und Snacks, anschließend werden betreute Hausübungen gemacht und gelernt. Zum Abschluss gibt es eine warme Mahlzeit – für viele der Kinder die einzige Mahlzeit am Tag. Auch die Schasers machen deutlich, dass in ihrer Arbeit keine schnellen Erfolge zu erwarten sind. „Die Veränderung greift langsam, aber stetig. Kinder, die früher in unserer Betreuung waren, führen heute als junge Erwachsene ein sichtbar anderes Leben. Durch bessere Bildung haben sie mehr Chancen am Arbeitsmarkt. Mit ihrem Einkommen verändern sie ihre Wohnsituation. Sie erziehen ihre Kinder achtsamer und schicken sie regelmäßig zur Schule. Auch wenn junge Frauen erst Kinder bekommen, wenn sie selber keine Kinder oder Teenager mehr sind, ist das ein Erfolg. Wir setzen auf Selbstermächtigung ab dem frühen Kindesalter, indem die Kinder zum Beispiel üben, eigene Entscheidungen zu treffen. Wichtig ist eine kontinuierliche Begleitung, am besten täglich, um tragfähige Fortschritte erzielen zu können.“
Bei unserem Besuch in den beiden Kinderarchen wurden wir von den Kindern und Betreuer*innen herzlich aufgenommen. In Csekefalva erlebten wir eine Musikstunde mit und sangen gemeinsam rumänische Kinderlieder. In Fiatfalva erzählten uns die Kinder im Sesselkreis, was ihnen hier am meisten Spaß macht: „Dass ich etwas lernen darf“, „Dass wir etwas zu essen bekommen“ oder „Dass ich meine Freunde treffe“ waren häufige Antworten. Wir spürten, wie wohl und sicher sich die Kinder durch den liebevollen Umgang fühlen, den sie hier erleben. Ganz offen zeigten sie auch ihr Erstaunen über Hanspeters hohes Alter 😉
Anschließend forderten uns einige Mädchen mit sanftem Nachdruck auf, sie bei ihrer Hausübung zu unterstützen. Trotz Sprachbarriere lösten wir gemeinsam Rechenaufgaben und die Mädchen waren mächtig stolz auf jedes richtige Ergebnis!


Alle Projektpartner*innen auf unsere Route verliehen ihrer Freude über unseren Besuch Ausdruck. Sie empfanden es als große Wertschätzung, dass wir die anstrengende Reise auf uns genommen hatten, um sie zu sehen. Daher war es ihnen ein Anliegen, uns zu beherbergen! Zweimal übernachteten wir im „Haus des Lichts“ in Weissenkirch bei Sighisoara. Hier realisiert der Verein „Das Leben macht Sinn“ Angebote für beeinträchtigte Kinder und Jugendliche sowie deren Familien. ORA-Partner Pfarrer Martin Türk-König, der das Projekt mit aufgebaut hat, war leider nicht vor Ort, aber seine Mitstreiter*innen Felix und Fanny Meinel zeigten uns das Haus und die angeschlossene therapeutische Farm einige Kilometer außerhalb der Stadt. Hier trafen wir eine Gruppe Jugendlicher und junger Erwachsener mit Beeinträchtigung, die sich hingebungsvoll mit den zur Farm gehörenden Pferden und Eseln beschäftigten. „Der Staat unterstützt unsere Einrichtung ausschließlich durch die Gehälter der ausgebildeten Therapeuten. Alle sonstigen Kosten müssen wir durch Spenden abdecken“, klärte uns Felix auf. Er ist ein Tüftler, der die Farm mit Geschick, einfachen Mitteln und viel Herzblut nach und nach weiter ausbaut. Verschmitzt lächelnd zeigte er uns, wie er eine Lieferung alter Zimmertüren als Decke in der kleinen Farmkapelle verbaut hat. Sein Engagement und der Spirit , aus allem das Beste zu machen, beeindruckte und inspirierte uns!


Den vorletzten Haltepunkt unserer Reise bildete die Armensiedlung „Kaltes Tal“ am Stadtrand von Targu Mures. Wir kamen gerade rechtzeitig zur Essensausgabe der Suppenküche, die ORA-Projektpartner Joszi Mucui hier aufgebaut hat. Kinder, Jugendliche und Erwachsene warteten geduldig, während ihre selbst mitgebrachten Speisebehälter von den Helfern gefüllt wurden. Danach setzten sich die meisten direkt auf den Grünstreifen vor dem Haus, um zu essen. „Wir würden uns natürlich einen richtigen Speisesaal wünschen, aber das wäre zu teuer und extrem aufwändig hinsichtlich der staatlichen Hygieneauflagen“, erklärte uns Zsolt, Joszis engster Mitarbeiter, auf Englisch. Joszi spricht kein Deutsch, daher begleitete uns Zsolt als Dolmetscher. Nach dem Essen begann für etwa 30 Kinder die Nachmittagsbetreuung in der „garage school“. Die Kinder sangen uns zu Ehren ein Kirchenlied – pures Gänsehautfeeling!
Auf dem anschließenden Rundgang durch die Roma-Siedlung boten sich uns Bilder von Trostlosigkeit und erschreckender Armut. Wir sprachen mit einer krebskranken Frau und einer Familie, deren Zuhause, eine wackelige Bretterhütte, kurz vor dem Zusammenbruch stand. Die meisten Erwachsenen nahmen unsere Anwesenheit eher teilnahmslos zur Kenntnis. Hingegen begleiteten uns die ganze Zeit Kinder, die sich über die Abwechslung und unsere freundliche Zuwendung freuten.

Nach unserem Aufbruch war es lange still im Auto. Wir fühlten Dankbarkeit, dass wir dank unserer Spender*innen hier Nothilfe leisten können. Doch die Betroffenheit über das desolate Lebensumfeld dieser Menschen wirkte noch lange nach.


Auf unserer Rückreise legten wir noch einen Stopp bei ORA-Projektpartner Aurel Ardeu ein, der in Santana eine Suppenküche (Cantina) betreibt und sich für Bedürftige einsetzt. Wie viele unserer rumänischen Projektpartner stellt auch er einen Teil der notwendigen Finanzen für seine soziale Arbeit über Second Hand Geschäfte auf. Wir besichtigten die Cantina, Aurels gut sortiertes Lager und beide Second Hand Geschäfte. Hier werden unter anderem Sachspenden von ORA zu so günstigen Preisen angeboten, dass sie auch für finanziell schlecht gestellte Menschen erschwinglich sind.
Nach einer kurzen Nachtruhe bei Aurel brachen wir vor Tagesanbruch wieder auf und machten uns auf den Heimweg Richtung Österreich.


Und was ist das Gesamtfazit der Reisegruppe? „Wir konnten miterleben, dass unsere Hilfe ankommt und wirkt. Das verdanken wir unseren verlässlichen Partner*innen vor Ort, die sich mit Augenmaß, Sachverstand und Herzblut für Benachteiligte und Notleidende einsetzen“, sind sich alle einig. „Die Kinder, die uns trotz schwierigster Lebensumstände, Armut, Flucht- oder Gewalterfahrung offen und vertrauensvoll begegneten, haben unsere Herzen besonders berührt. Ihr Anblick ist Ansporn und Ermutigung zugleich, uns auch weiterhin dafür einzusetzen, ihr Leben zum Besseren zu verändern!“